Unteres Mittelmaß – mit Tendenz nach unten: Ein Viertel der Grundschulkinder in Deutschland erreicht nicht den internationalen Mindeststandard beim Lesen. Dies hat die aktuelle Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) ergeben, die im Mai 2023 veröffentlicht wurde. Die betroffenen Kinder laufen Gefahr, durch ihre Leseschwäche im gesamten weiteren Verlauf ihrer Schul- und Berufszeit stark beeinträchtigt zu sein.
Für den internationalen Leistungstest wurde die Lesekompetenz von Viertklässlern in 65 Staaten und Regionen untersucht. In Deutschland haben im Frühjahr 2021 insgesamt 4.611 Schülerinnen und Schüler an der Erhebung teilgenommen. Dafür bearbeiteten sie am Laptop Lesetexte und Fragebögen. Zusätzlich flossen Einschätzungen von Lehrkräften und Eltern zu den Leistungen und der Lesemotivation der Kinder in die Studie ein.
Die deutschen Grundschulkinder lagen im internationalen Vergleich mit 524 erreichten Punkten zwar im internationalen Mittelfeld, doch ihre Ergebnisse bei der Lesekompetenz und der Lesemotivation sind seit dem Jahr 2001, nach dem berühmten „PISA-Schock“, deutlich abgefallen. Zum Vergleich: Singapur erreichte mit 587 Punkten den Spitzenwert, in der EU erzielten England (558 Punkte), Finnland (549 Punkte) und Polen (549 Punkte) deutlich höhere mittlere Leistungen als Deutschland.
Besorgniserregend ist vor allem, dass 25,4 Prozent der Grundschulkinder in Deutschland den international festgelegten Mindeststandard beim Lesen (Kompetenzstufe III) nicht erreicht. Dieser Standard wird als Minimum definiert, das für erfolgreiches Lernen auch in allen anderen Fachrichtungen beispielsweise zum Verständnis von Aufgabenstellungen und zur Informationsverarbeitung notwendig ist.
Auch die Kluft zwischen guten und schwachen Lesenden ist im Vergleich zur Erhebung von 2001 größer geworden. Für Forschende ist dies ein typisches Zeichen für stark ausgeprägte soziale und migrationsbedingte Disparitäten in Deutschland. „Die verschiedenen ergriffenen Maßnahmen in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben kaum Wirkung im Hinblick darauf gezeigt, den Bildungserfolg sowie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland zu verbessern“, so Nele McElvany, geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund und Wissenschaftliche Leiterin von IGLU 2021. Kinder aus Arbeiterfamilien müssten für eine Gymnasialempfehlung nach wie vor 2,5-mal mehr leisten als Kinder aus Akademikerfamilien – auch bei gleicher Lesekompetenz.
Viele andere Teilnehmerstaaten zeigten weit geringere Disparitäten. Schlussfolgerung: Die starke Verknüpfung von familiärer Herkunft und schulischem Erfolg in Deutschland ist kein unausweichlicher Automatismus. Auch konnten andere Länder die erschwerten Unterrichtsbedingungen in den Pandemiejahren besser auffangen.
Deutschland muss laut Nele McElvany mit seinem Bildungssystem zukünftig sicherstellen, dass alle Kinder über eine grundlegende Lesekompetenz am Ende der Grundschulzeit verfügen. Und dies sei im gesamtgesellschaftlichen Interesse, denn mangelnde Lesekompetenz sei letztlich mit hohen Kosten für die betroffenen Individuen, für unsere Gesellschaft und unser Land verbunden.
Zur Studie
IGLU testet die Lesekompetenz und erfasst die Einstellung zum Lesen und die Lesegewohnheiten von Schülerinnen und Schüler in der vierten Klasse im internationalen Vergleich in einem 5-Jahres-Zyklus. Die Erhebung ist ein zentrales Element des Bildungsmonitorings in Deutschland und ermöglicht Aussagen über Trends im Schulsystem. In Deutschland wird die Studie vom interdisziplinären Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund durchgeführt und analysiert.
Ausführliche Ergebnisse der IGLU-Studie 2021